Überleben an Ort und Stelle
Über unsere diesjährige Filmauswahl im Wettbewerb der langen Dokumentarfilme
Viele Anstrengungen des Menschen sind auf das Überleben gerichtet: das Heizen und das Kochen, die Erwerbsarbeit oder die Selbstversorgung. Aber was gehört, neben den ersten körperlichen Bedürfnissen, alles noch dazu? Freiheit, Glück, Selbstbestimmung –sind diese Dinge nur ein Bonus, der –vielleicht–jenen gewährt wird, die satt sind und ein Obdach haben? Oder sind sie von Anfang an Teil des menschlichen Überlebensprogramms?
Die Filme unseres diesjährigen Wettbewerbs zeigen, dass Essen und Würde, Wärme und Hoffnung, Geborgenheit und die Chance, sich selbst und seine Bedürfnisse auszudrücken, meist sehr eng miteinander verwoben sind. Da müssen Menschen ihre eigene Vergangenheit noch einmal aufsuchen, sie mit anderen durchsprechen oder zusammen nachspielen, um in der Gegenwart ihren Platz zu finden, während andere ihre Gefühle und Erwartungen an die Zukunft richten oder in der Gegenwart ausfechten.
Ein junger Mann fährt in sein bosnisches Herkunftsland, um verborgene Schichten seines eigenen Lebens freizulegen. Die Mitarbeiter einer polnischen Traktorenfabrik finden ganz verschiedene Wege, sich ihres früheren Lebens zu vergewissern. Junge marokkanische Nomaden sehnen sich in städtische Erwerbsverhältnisse und verbinden damit Vorstellungen einer neuen Freiheit. Sibirische Frauen dagegen eignen sich mit dem Kehlkopfgesang eine traditionelle Männerdomäne an und riskieren für diese Ausdrucksmöglichkeit ihre soziale Anerkennung. Eine Gruppe griechischer Aktivisten wiederum baut eine bäuerliche Direktvermarktung auf und man ist keine Minute darüber im Zweifel, dass es ihnen nicht nur um Einkommen,sondern auch um eine Möglichkeit des solidarischen Lebens geht. Die letzten Bewohner der belgischen Geisterstadt wollen lieber die ersten Bewohner einer neuen Heimat sein. Existenziell sind zweifellos der Kampf des irischen Bauern gegen die staatliche Akquise seines Landes und das verzweifelte Ringen der niederländischen Schäferfamilie um ihre Erwerbsgrundlagen in einer Gesellschaft, in der Natur und Freiheit mit Geld verrechnet werden. Auch diese Protagonisten engagieren sich nicht nur für eine private Nische, sie kämpfen um ein Recht, das in ihren Vorstellungen vom Leben wurzelt, wie es gelebt werden soll.
So unterschiedlich die Geschichten auch sind, diese Auseinandersetzungen finden immer an Ort und Stelle statt. Man muss irgendwo hingehen, um etwas klären zu können oder man muss an einem bestimmten Punkt bleiben, ausharren und sich dort auseinandersetzen, wenn man das Leben in diesem Sinne gestalten will. Zwischen den Filmemachern und den Protagonisten in unseren Wettbewerbsfilmen zeigt sich immer wieder ein solidarisches Verhältnis, in dem sie gemeinsam einem reichen Verständnis vom Überleben nachgehen. Nach eben dieser Gemeinsamkeit haben wir gesucht –und wir schulen daran unsere Vorstellungen von dem, was für uns gute Dokumentarfilme sind. Wir möchten unseren Wettbewerb nutzen, um in das Engagement, in die Empathie und in die Liebe zum Leben an Ort und Stelle zu investieren und laden unser Publikum und die Juroren dazu ein, diesem Pfad zu folgen.