Reif für die Insel?
Über die langen Dokumentarfilme im Wettbewerb 2020
Das Leben auf Inseln stellen wir uns gern beschaulich vor. Abgeschnitten von allem, ohne Straßen, die in die Ferne führen, am besten umgeben von endlosem Wasser, hier lässt man das Sausen der „geschäft’gen Welt“ hinter sich, so hofft man. Stimmt das?
Einer unser diesjährigen Filme spielt auf eben jener Insel, die vor Jahrhunderten von einem schiffbrüchigen Seemann besiedelt wurde, der mit seiner Geschichte Daniel Defoe zum Roman „Robinson Crusoe“ inspirierte. Heute gehört diese Insel zu Chile. Die Menschen hier genießen Waren aus aller Welt, dass es auf dem Festland eine bessere medizinische Versorgung gibt, wissen sie auch zu schätzen. Außerdem müssen sie sich mit einer steigenden Zuwanderung auseinandersetzen, manchen ist sie Ärgernis. Die Insel ist ein Teil der Welt, sie ist auch ihren Widersprüchen ausgesetzt.
Ein ähnliches Bild ergibt sich, wenn man den Geschichten der portugiesischen Atlantikinsel folgt, die ein anderer Film erzählt. Hier bedroht nicht nur ein schlafender Vulkan das Leben von Mensch und Tier, das Versiegen der Fischgründe und die Plastikreste in den Mägen der Wasservögel führen den Menschen täglich vor Augen, dass sie ihr Schicksal nicht allein in der Hand haben.
Abgelegen, aber nicht ausgeschieden: So ist es auch in dem entlegenen isländischen Dorf. Und selbst der kleine italienische Junge, der mit seinem Vater ein beinahe autarkes Leben führt, erfährt immer wieder die Unübersichtlichkeit der weiten Welt – und er stellt sich ihr.
Wenn nun aber das Leben auf Inseln oder in den anderen ländlichen Gegenden der diesjährigen Filmauswahl, in Mecklenburg oder in der südlichen Türkei etwa, der globalen Komplexität nicht enthoben ist, was macht es dann aus? Sind die entlegenen Orte einfach nur schlechter versorgt, ansonsten aber der meist zerstörerischen Dynamik genauso ausgeliefert wie die Städte und die suburbanen Wohn- und Arbeitslandschaften, vielleicht sogar schutzloser? Immerhin fällt dort, wo weniger Menschen wohnen, auch der Widerstand gegen den Stoffwechsel der Verbrauchsgesellschaft schwächer aus.
In der Tat haben die wenigen Menschen in den dünn besiedelten Gegenden nicht viel in der Hand, wenn es um ihre Interessen geht. Sie haben aber den anderen auch etwas voraus: Eine Souveränität im Umgang mit ihren Ressourcen, ein selbst erworbenes Wissen, eine geringere Anfälligkeit gegen die Ideologien der Diskurse, sofern es um jene Dinge geht, in denen sie eigene Erfahrungen sammeln können. Bei aller Schwäche dieser ländlichen Gesellschaften, das ist etwas Wert, nicht nur für jene, die dort leben, auch für die anderen, die im suburbanen globalen Speckgürtel leben, ob gut oder schlecht. Man kann davon lernen.