Die Taube auf dem Dach als ein Grund zu leben
Kommentar zur Wettbewerbsauswahl 2023 im langen Dokumentarfilm
Unser diesjähriger Wettbewerb wirkt auf den ersten Blick bunt und uneinheitlich. Es gab Jahre, da dominierten bestimmte Themen: das Leben auf Inseln, die Subsistenz im Raum oder die Migration. Die acht Geschichten, die wir dieses Mal ausgewählt haben, scheinen auf den ersten Blick wenig miteinander gemein zu haben. Wir reisen einmal um die Welt, von Kolumbien über Afrika und Europa bis nach Indien. Es geht um den Krieg zwischen Aserbaidschan und Armenien, um ein winziges Handelsunternehmen zwischen Portugal und dem Senegal, um Taubenzucht im Libanon und um Umweltverschmutzung in Italien. Wir bestaunen eine Juteproduktion in einer nach industriellen Maßstäben uralten Werkhalle, suchen in einem berückend traurigen Film mit den Ureinwohnern am Amazonas nach Worten für die Liebe, verfolgen den Bau eines Feriendorfes im Allgäu und landen sogar in einem Breisgauer Fitnessstudio. Zerstörung, Liebe, Arbeit, Sport, das ist ein weites Spektrum.
Aber aus allen Filmen tritt etwas hervor, fast wie das große Thema unserer Zeit: Menschen brauchen Halt und Hoffnung, und diese entstehen durch kulturelle Praxis. Es ist nicht damit getan, dass wir versorgt sind, obwohl das Essen und ein Raum zum Schlafen zu den elementarsten Dingen gehören, die der Mensch nun einmal benötigt, und die doch vielen verwehrt werden. Aber um all die großen und kleinen Zumutungen des Lebens auszuhalten, um morgens aufzustehen und zu tun, was nun einmal getan werden muss, schaffen wir uns eine Kleidung aus Sprache und Zuversicht, die wir täglich anlegen, die uns wärmt und schützt. Diese Kleidung ist Kultur, sie macht aus dem, was uns auferlegt ist, etwas Eigenes, in dem viele Möglichkeiten und Pläne verborgen sind. Der vergiftete Fluss könnte ein Heilwasser sein, die schlecht bezahlte Arbeit eine Tradition, die Taube auf dem Dach eine Form der Selbstbehauptung. Im Sport finden wir eine Herausforderung und ein Bürgerprojekt beflügelt durch gemeinsame Ziele. Der kleine Handelsunternehmer arbeitet mit Zähigkeit an seinem Wunsch nach Wohlstand, indem er wiederum andere lang gehegte Wünsche erfüllt. Die lateinamerikanischen Urwaldbewohner brauchen die alte schamanistische Einbettung ihres Daseins, um ihren Lebensmut zu behalten. Und die Frauen in Berg-Karabach färben sich die Haare. So wenig das in ihrer gefährdeten Existenz auch ist: Es ist Kultur.
Die Welt, wie sie uns derzeit erscheint, ist eine einzige Proklamation. Gefahren werden abgewehrt und Feinde besiegt, der Ausnahmezustand wird zur Dauerschleife. Aber wir sind Menschen. Wir wollen lachen, hoffen und etwas schön finden. Und morgens wollen wir einen Grund haben, in den Tag zu gehen.