Die gebauten Regeln unseres Lebens
Über die diesjährige Filmauswahl im Wettbewerb „langer Dokumentarfilm“
Provinz, Land, Dorf: das klingt nach Ruhe und Stillstand. Die Filme unseres diesjährigen Wettbewerbs erzählen etwas anderes. Wie schnell sich die Welt verändert, kann man heute wohl am besten „ganz weit draußen“ erfahren.
Da sind zum einen die wachsenden Ballungsräume, die das umliegende Land verschlingen, als sei ein hungriger Organismus am Werk, wie in unseren Filmen aus Äthiopien und Spanien. Landwirtschaft und Selbstversorgung werden in diesen Prozessen zermahlen.
Wo die Wüsten besiedelt werden wie in „Truth Or Consequences“, gleiten die Vorstellungen von einem Leben in der Provinz ohnehin längst an der Wirklichkeit ab. Hier herrscht ein Geflecht aus Suburbanisierung und Subsistenz.
In den Alpen, die einst als schaurige Wildnisse von den europäischen Reisenden entdeckt wurden, baut man riesige Schutzwerke, um Bewohner und Touristen von Lawinen aus Geröll und Schnee zu schützen.
Die Räume verändern sich – und mit ihnen die Menschen.
Da sind die Schweizer Jugendlichen, die in den achtziger Jahren in den Strudel der Züricher Drogenszene geraten sind. Viele von Ihnen haben diese Erfahrung mit dem Leben bezahlt.
Da sind die jungen Männer aus der Schweiz, die nach Straftaten in ihr türkisches Herkunftsland abgeschoben werden und sich auf einmal in der Fremde wiederfinden.
Da sind die Bewohner im erzgebirgischen Pöhla, die ihr neues Leben aus den Versatzstücken der Bergbautraditon wieder neu zusammensetzen.
Und da sind die kolumbianischen Erzähler, die letzten ihrer Art, die mit ihren unfassbaren Geschichten einen Bogen von der Versklavung afroamerikanischer Ureinwohner bis in die Gegenwart zu schlagen vermögen.
Was eint diese unterschiedlichen Filme? Sie geben den Menschen eine Chance. Die Welt ist nicht einfach, die Menschen sind es auch nicht. Aber sie werden als Handelnde sichtbar, die unter verschiedensten Bedingungen um ihre Menschlichkeit ringen. Dabei wird sichtbar, dass wir uns die Welt mit ihren Spielregeln und Möglichkeiten vielfach selbst bauen – ihre Mauern und Grenzen, ihre Äcker, Erlebnis- und Arbeitsräume. Dass diese Räume für ein gelingendes Leben gestaltet werden können und müssen, ist ein wichtiger Umstand, der in den Debatten über die Zukunft der Demokratie beinahe gänzlich verschwiegen wird.
Machen wir ihn sichtbar!