Kenneth Anders
Kenneth Anders
Sven Wallrath
Sven Wallrath
Gregor Glass
Gregor Glass

Kommentar des Programmbeirats -Dokumentarfilm

Die gebauten Regeln unseres Lebens

Über die diesjährige Filmauswahl im Wettbewerb „langer Dokumentarfilm“

Provinz, Land, Dorf: das klingt nach Ruhe und Stillstand. Die Filme unseres diesjährigen Wettbewerbs erzählen etwas anderes. Wie schnell sich die Welt verändert, kann man heute wohl am besten „ganz weit draußen“ erfahren.

Da sind zum einen die wachsenden Ballungsräume, die das umliegende Land verschlingen, als sei ein hungriger Organismus am Werk, wie in unseren Filmen aus Äthiopien und Spanien. Landwirtschaft und Selbstversorgung werden in diesen Prozessen zermahlen.

Wo die Wüsten besiedelt werden wie in „Truth Or Consequences“, gleiten die Vorstellungen von einem Leben in der Provinz ohnehin längst an der Wirklichkeit ab. Hier herrscht ein Geflecht aus Suburbanisierung und Subsistenz.

In den Alpen, die einst als schaurige Wildnisse von den europäischen Reisenden entdeckt wurden, baut man riesige Schutzwerke, um Bewohner und Touristen von Lawinen aus Geröll und Schnee zu schützen.

Die Räume verändern sich – und mit ihnen die Menschen.

Da sind die Schweizer Jugendlichen, die in den achtziger Jahren in den Strudel der Züricher Drogenszene geraten sind. Viele von Ihnen haben diese Erfahrung mit dem Leben bezahlt.

Da sind die jungen Männer aus der Schweiz, die nach Straftaten in ihr türkisches Herkunftsland abgeschoben werden und sich auf einmal in der Fremde wiederfinden.

Da sind die Bewohner im erzgebirgischen Pöhla, die ihr neues Leben aus den Versatzstücken der Bergbautraditon wieder neu zusammensetzen.

Und da sind die kolumbianischen Erzähler, die letzten ihrer Art, die mit ihren unfassbaren Geschichten einen Bogen von der Versklavung afroamerikanischer Ureinwohner bis in die Gegenwart zu schlagen vermögen.

Was eint diese unterschiedlichen Filme? Sie geben den Menschen eine Chance. Die Welt ist nicht einfach, die Menschen sind es auch nicht. Aber sie werden als Handelnde sichtbar, die unter verschiedensten Bedingungen um ihre Menschlichkeit ringen. Dabei wird sichtbar, dass wir uns die Welt mit ihren Spielregeln und Möglichkeiten vielfach selbst bauen – ihre Mauern und Grenzen, ihre Äcker, Erlebnis- und Arbeitsräume. Dass diese Räume für ein gelingendes Leben gestaltet werden können und müssen, ist ein wichtiger Umstand, der in den Debatten über die Zukunft der Demokratie beinahe gänzlich verschwiegen wird.

Machen wir ihn sichtbar!

Programmbeirat für den langen Dokumentarfilm
Kenneth Anders, Sven Wallrath, Gregor Glass

Julia Hebestreit
Julia Hebestreit
Sven Alhelm
Sven Ahlhelm
Thomas Winkelkotte
Thomas Winkelkotte

Kommentar des Programmbeirates – Kurzdokumentarfilm

Beim diesjährigen Sichten der eingereichten kurzen Dokumentarfilme ist uns aufgefallen, dass es immer mehr Beiträge gibt, bei denen uns nicht klar ist: Was ist inszeniert, und was nicht. Die KollegInnen der Abteilung des Kurzspielfilms haben uns ähnliches berichtet. Einige von diesen Filmen haben wir auch in unser Programm aufgenommen.

In dem Moment, in dem eine Kamera auftaucht, um ein bestimmtes Ereignis fest zu halten, ist die Realität nicht mehr dieselbe wie vorher. Das ist keine neue Diskussion. Jedoch nimmt der Gestaltungswille zu, gerade bei den jüngeren FilmemacherInnen. Dazu trägt sicherlich bei, dass durch die Allgegenwärtigkeit der mobilen aufzeichnenden Endgeräte unser Leben nahezu nahtlos verdoppelt wird.

Blasty und Begstvo, zwei von unseren Programmbeiträgen, sind durch die Pandemie beeinflusste Arbeiten, das Leben wird zum Experimentierfeld.

Marbleland, Deutschland ist eine Trampolin und I bit my tounge, verbindet die Einsicht in Welten, in denen durch freiwillige oder erzwungene Ortswechsel das Gefühl für Heimat neu justiert werden muss.

Unser Eröffnungsfilm Living on the volcano zeigt die Lebensbedingungen der Menschen in der südlichen Ukraine. Teile dieses Films sind Szenen aus dem Spielfilm „Volcano“ der in der Region und mit den Menschen dort inszeniert worden ist.

Scheinbar gänzlich ohne Inszenierung kommt NAYA – Der Wald hat tausend Augen aus. Lediglich aus found footage bestehend, Material aus zahlreichen Überwachungs- und Wildkameras, wird dann doch eine Inszenierung einer ganz anderen Art gezeigt.

Und schließlich findet mit Die Allgemeinen Geschäftsbedingungen eine besondere Form der Selbstinszenierung statt, die unter anderem auf die Verwicklung von Filmemachenden und den Protagonisten hinweist.

Somit ist ein breit gefächertes Programm zusammen gekommen, zu dem wir zu erkenntnisreichen und auch unterhaltsamen Zuschauen einladen. All diese Filme sind nominiert zum Publikumspreis der diesjährigen Provinziale. Für diese -zugegeben nicht leichte- Entscheidungsfindung freuen wir uns auf rege Teilnahme. Zu Gesprächen stehe wir gerne bereit.

Kurzer Dokumentarfilm Programm Beirat
Thomas Winkelkotte, Sven Ahlhelm, Julia Hebestreit

Sascha Leeske
Sascha Leeske
Katja Ziebarth
Katja Ziebarth
Lars Fischer
Lars Fischer
Sabine Eggeling
Sabine Eggeling

Kommentar des Programmbeirates – Kurzspielfilm

Heimatsehnsucht, Knochen und das Schweigen kleiner Fische

Kurzfilme auf der 18. Provinziale

Würdest du dich bis aufs Blut, fast tot prügeln, um deine Heimat verlassen zu können? Würdest du dich bis zur Ohnmacht mit Schmerzmitteln vollpumpen, um sie neu zu gewinnen oder dich als junges Mädchen zur Taschendiebin ausbilden und ausbeuten lassen, um irgendwann an die Côte d’Azur oder einen anderen reichen Strand zu kommen? Was würdest du tun, wenn du an dem Ort, wo du lebst oder leben willst, auf Knochen oder Patronenhülsen stießest? Kurz: Wie weit sind wir bereit für die Hoffnung, vielleicht sogar die Aussicht auf ein gelingendes Leben zu gehen?

Diese Frage zieht sich durch viele der Kurzspielfilme, die wir aus den rund 350 Einsendungen für die 18. Provinziale für den diesjährigen Wettbewerb ausgesucht haben.

Bisher musste ich auf sie keine Antwort suchen. Ich stand noch nie in existenzieller Not oder sah mich an einem Ort, an dem ich lebte, auf so aussichtslosem Terrain, dass ich mein Leben hätte scheitern sehen. Mag sein, dass meine Vision eines gelingenden Lebens nicht ausgreifend genug war, nicht prall gefüllt mit Sehnsucht (wonach?), sondern so kleinmütig und bieder, dass ein alles in Frage stellendes Scheitern – und der dann zwingend nötige Neubeginn – nicht möglich, oder besser, in der Anlage meines Lebens nicht vorgesehen war. Denn wir leben ja nicht für uns allein. Wir teilen die Orte, Räume und Landschaften unseres Lebens mit anderen, mit der Familie, mit Freunden, Nachbarn, sind eingebunden in Institutionen wie Schule, Vereine, soziale Systeme, Werte… Wir leben in Gesellschaft, mit all den Zumutungen, Sicherheiten, Freiheiten, Begrenzungen dieses Eingebundenseins. Wir, all diese Ichs, sind Gesellschaft. Und in deutschen Landschaften staatlich und wirtschaftlich meist wohl behütet – überwiegend noch verschont von (Natur)Katastrophen, die uns aus der Mitte der Heimat reißen oder gar unser Leben in Frage stellen – werden wir selten an die Grenzen unseres Daseins gezwungen.

Was ist ein gelingendes Leben überhaupt, was gehört alles dazu? Reichen ein guter Ort, Familie, Freunde, eine Arbeit und ein Auskommen? Was, wenn die Fische immer kleiner und weniger werden, die im Meer vorm Dorf gefangen und fürs (Über)Leben gebraucht werden: stillschweigend aufgeben, einfach weitermachen? Was, wenn ich in der Fremde keine Bindungen aufbauen kann, der neue Ort nicht zu meinem wird? Was, wenn mein karges Leben an einer Ziege hängt und sie wegläuft? Was, wenn ich an den Ort zurück möchte, den ich für ein gelingendes Leben verließ, das ich nicht fand, und abgewiesen werde? Gehört handgemachte Musik zu einem gelingenden Leben dazu, und was, wenn niemand mehr für jemand anderen spielte?

Was ist gelingendes Leben? Die von Katja Ziebarth, Sabine Eggeling, Sascha Leeske und mir ausgewählten kurzen Spielfilme geben darauf keine Antwort. Sie stellen diese Fragen aus verschiedenen räumlichen und sozialen Perspektiven und darum zeigen wir sie und laden Euch ein, sie mit uns zu schauen und über sie zu sprechen.

Programmbeirat Kurzspielfilm
Sascha Leeske, Katja Ziebarth, Lars Fischer, Sabine Eggeling

Kathrin Welke
Kathrin Welke
Almut Undisz
Almut Undisz

Kommentar des Programmbeirates - Animationsfilm

Der Animationsfilm bietet die Möglichkeit, mit ganz anderen filmischen und darstellerischen Mitteln zu erzählen; da sind die Protagonist:innen schon mal gestrickt oder aus Knete geformt oder nur angedeutet mit Strichen. Faszinierend, dass trotzdem nicht nur Gedanken, sondern auch Gefühle transportiert werden können – vielleicht sogar intensiver.

Bei der Auswahl aus all diesen phantasievollen und zum Teil sehr arbeitsaufwändigen Kunstwerken, die wir begutachten durften, stellten wir uns die Frage: Welchen Filmen gelingt es am besten, uns eine relevante Geschichte zu erzählen, die im Raum Provinz verankert ist und zugleich die vielfältigen Möglichkeiten der Animation nutzt?

Wir haben uns für acht Filme entschieden, die von ihrer Machart ganz unterschiedlich sind, aber eins gemeinsam haben: Sie stellen das Bild vom idyllischen Landleben ganz klar in Frage. Mal auf einer düsteren Insel, wo ein Mann mit seinen Socken unheimliche Beobachtungen kommentiert. Mal im hintersten Sibirien, wo eine geschminkte Stadtziege von dem düsteren Dorfwolf in den Po gebissen wird. Da zweifelt ein Milchbauer, der keine Lust mehr auf die ewige Plackerei hat und sein Sohn begeistert sich trotzdem. Ein Liebespaar, das nach dem Happy End mit seinem Haus im Siebten Himmel schwebt, wird plötzlich von Fliegen heimgesucht und von ständigem Regen überschwemmt. Eine Mutter löst sich immer wieder auf und findet sich in neuen Räumen wieder, ihr Sohn versucht, bei ihr zu bleiben. Warten und Schlurfen sind die Hauptbeschäftigung der alten Strichmenschen, die in ihrem Altersheim portraitiert werden. Da kann die Natur draußen noch so schön sein. Und was, wenn wunderschöne Landschaft und problematische politische Einstellung der Bewohner aufeinandertreffen?

Programmbeirat Animationsfilm
Almut Undisz, Kathrin Welke