Kenneth Anders
Kenneth Anders
Sven Wallrath
Sven Wallrath
Gregor Glass
Gregor Glass

Kommentar des Programmbeirats -Dokumentarfilm

Die Taube auf dem Dach als ein Grund zu leben

Kommentar zur Wettbewerbsauswahl 2023 im langen Dokumentarfilm

Unser diesjähriger Wettbewerb wirkt auf den ersten Blick bunt und uneinheitlich. Es gab Jahre, da dominierten bestimmte Themen: das Leben auf Inseln, die Subsistenz im Raum oder die Migration. Die acht Geschichten, die wir dieses Mal ausgewählt haben, scheinen auf den ersten Blick wenig miteinander gemein zu haben. Wir reisen einmal um die Welt, von Kolumbien über Afrika und Europa bis nach Indien. Es geht um den Krieg zwischen Aserbaidschan und Armenien, um ein winziges Handelsunternehmen zwischen Portugal und dem Senegal, um Taubenzucht im Libanon und um Umweltverschmutzung in Italien. Wir bestaunen eine Juteproduktion in einer nach industriellen Maßstäben uralten Werkhalle, suchen in einem berückend traurigen Film mit den Ureinwohnern am Amazonas nach Worten für die Liebe, verfolgen den Bau eines Feriendorfes im Allgäu und landen sogar in einem Breisgauer Fitnessstudio. Zerstörung, Liebe, Arbeit, Sport, das ist ein weites Spektrum.

Aber aus allen Filmen tritt etwas hervor, fast wie das große Thema unserer Zeit: Menschen brauchen Halt und Hoffnung, und diese entstehen durch kulturelle Praxis. Es ist nicht damit getan, dass wir versorgt sind, obwohl das Essen und ein Raum zum Schlafen zu den elementarsten Dingen gehören, die der Mensch nun einmal benötigt, und die doch vielen verwehrt werden. Aber um all die großen und kleinen Zumutungen des Lebens auszuhalten, um morgens aufzustehen und zu tun, was nun einmal getan werden muss, schaffen wir uns eine Kleidung aus Sprache und Zuversicht, die wir täglich anlegen, die uns wärmt und schützt. Diese Kleidung ist Kultur, sie macht aus dem, was uns auferlegt ist, etwas Eigenes, in dem viele Möglichkeiten und Pläne verborgen sind. Der vergiftete Fluss könnte ein Heilwasser sein, die schlecht bezahlte Arbeit eine Tradition, die Taube auf dem Dach eine Form der Selbstbehauptung. Im Sport finden wir eine Herausforderung und ein Bürgerprojekt beflügelt durch gemeinsame Ziele. Der kleine Handelsunternehmer arbeitet mit Zähigkeit an seinem Wunsch nach Wohlstand, indem er wiederum andere lang gehegte Wünsche erfüllt. Die lateinamerikanischen Urwaldbewohner brauchen die alte schamanistische Einbettung ihres Daseins, um ihren Lebensmut zu behalten. Und die Frauen in Berg-Karabach färben sich die Haare. So wenig das in ihrer gefährdeten Existenz auch ist: Es ist Kultur.

Die Welt, wie sie uns derzeit erscheint, ist eine einzige Proklamation. Gefahren werden abgewehrt und Feinde besiegt, der Ausnahmezustand wird zur Dauerschleife. Aber wir sind Menschen. Wir wollen lachen, hoffen und etwas schön finden. Und morgens wollen wir einen Grund haben, in den Tag zu gehen.

Dokumentarfilm Programm Beirat
Kenneth Anders, Sven Wallrath, Gregor Glass

Julia Hebestreit
Julia Hebestreit
Sven Alhelm
Sven Ahlhelm
Thomas Winkelkotte
Thomas Winkelkotte

Kommentar des Programmbeirates – Kurzdokumentarfilm

Sich um seine Mitmenschen kümmern

Daseinsfürsorge ist so ein Wort aus dem Amtsdeutsch, das eine zutiefst menschliche Verhaltensweise, nämlich füreinander da zu sein, in einen Behördenvorgang verwandelt.
Eine vollkommen eigene Auffassung, wie das umzusetzen ist, sehen wir in unseren sieben kurzen Dokumentarfilmen der diesjährigen Provinziale.

„Der gute Doktor“ und „Der Postbote“ sind Porträts zweier Männer aus dem russischsprachigen Raum, die das „gute Leben“ als Anspruch sehr ernst nehmen und mit ihrem sozialen Engagement die Behördenwillkür ganz eigenwillig interpretieren.

In „Grenzgespräche“ im Urwald an der polnisch-weißrussischen Grenze versuchen Aktivistinnen verfolgten geflüchteten Menschen aus der Not zu helfen, in die sie aufgrund unmenschlich handelnder Regimes geraten sind.

„Waschmaschinenverleih“ aus Kolumbien zeigt eine für uns Mitteleuropäer ungewöhnliche Dienstleistung, bei der der Protagonist seine schwer zu tragende Aufgabe ganz leicht nimmt.
Über den Kopf der Einwohner*innen in Rumänien haben die diktatorischen Behörden den Bau eines Kupferbergwerks und Staudamms durchgesetzt.

In „Geamăna“ sehen wir eine der letzten von der Zukunft bedrohten Einwohnerin, die bis zum Schluss, wenn der Giftschlamm kommt, ausharrt.

„Kayu Besi“ berichtet aus dem indonesischen Westpapua, von der sogenannten illegalen Arbeit selbstständiger Holzfäller im Regenwald, die auf gefährliche und mühselige Weise am Handel mit tropischen Hölzern teilnehmen wollen.

Und auch diesmal ist wieder ein „Schaffilm“ dabei: „Alle Töne dringen ein“. Vor den Toren von Madrid durchstreifen Hirten mit ihren Hunden und einer Schafherde einen vom Sturm verwüsteten Stadtwald. Das ergibt eine einzigartige Klangkulisse.

„Buen Vivir“, übersetzt „das gute Leben“, ist eine in einigen südamerikanischen Ländern verbreitete Philosophie, in der es nicht um Wachstum geht, sondern um eine Balance. Damit dies erreicht wird, sodass alle versorgt sind und ein würdiges Leben führen können, ist Eigeninitiative notwendig, wie wir sie in den ausgewählten Filmen sehen können.

Short Documentary Programme Advisory Board
Thomas Winkelkotte, Sven Ahlhelm, Julia Hebestreit

Sascha Leeske
Sascha Leeske
Imma Harms
Imma Harms
Adrian Stuiber
Adrian Stuiber
Lars Fischer
Lars Fischer

Kommentar des Programmbeirates – Kurzspielfilm

Bleiben oder Gehen?

Zum 20. Jubiläum der Provinziale trat ein neuer Kurzspielfilmbeirat zusammen. Mit Imma Harms, Lars Fischer, Sascha Leeske und mir trafen zwei bekannte und zwei neue Gesichter in fünf Treffen aufeinander. Unterschiedlicher konnte die Konstellation kaum sein und so war Reibung vorprogrammiert. Selten habe ich eine so eine leidenschaftliche Diskussionskultur erlebt!

Auch die insgesamt 366 Einsendungen hätten qualitativ und inhaltlich nicht unterschiedlicher sein können. Doch wie in jedem Jahr formt sich magisch ein roter Faden, der uns durch verschiedenste Welten führt und sie uns durch die Augen Anderer neu erfahren lässt.

In einer intensiven, globalen Transformationsphase werden auch in diesem Jahr wieder die ganz großen Fragen gestellt: Wer bin ich? Wo gehöre ich hin? Wer und was ist mir wirklich wichtig? Bleibe ich hier oder breche ich auf zu neuen Ufern? Stagnation oder Veränderung, Festhalten oder Loslassen, Leben oder Tod, Bleiben oder Gehen? Oder vielleicht auch die befreiende Akzeptanz: Es ist so, wie es ist. All das zieht sich durch die insgesamt elf Filme aus sechs verschiedenen Ländern.

Zwei beste Freundinnen treffen sich mal wieder in ihrem Heimatdorf und feiern exzessiv, wie in alten Zeiten. Aber was ist besser? Dort bleiben oder in die große Stadt ziehen? Ein Junge wächst auf dem Bauernhof auf und soll das erste Mal das eigene Schwein schlachten. Töten oder am Leben lassen? Eine Gruppe engagierter junger Männer möchte in ihrer Stadt ein Projekt verwirklichen. Doch was braucht es heutzutage alles, um die Gunst der Kommunalpolitik zu gewinnen? Zwei Männer entscheiden sich für ein gemeinsames Leben in der Provinz. Doch wie offen können sie ihre Liebe zeigen und werden sie es schaffen, die Nachbarn im Zaum zu halten? Eine junge Witwe und ihre Tochter bewirtschaften den Betrieb des verstorbenen Ehemanns und Vaters weiter. Schaffen sie es, die Tomatenplantage zu erhalten und finden Mutter und Tochter wieder zueinander? Im Urlaub mit den Eltern erkundet ein Junge alleine die Heimat seiner Mutter. Findet er dort Anschluss und wird er es schaffen, die ersehnte Aufmerksamkeit seiner Eltern zu gewinnen? Tobi kehrt in sein ewig verregnetes Dorf zurück und versucht, Lotte für sein neues Leben zu begeistern. Was ist der Unterschied zwischen tight und nice und was soll das überhaupt bedeuten? Die Heimatstadt eines jungen Mannes wird zu einem Ferienresort umgebaut und er wartet besonnen auf die bevorstehende Veränderung. Wie geht es weiter und wo ist eigentlich der Wasserbüffel? Ein alter Fischer findet am Strand eine durchnässte Jacke mit Papieren. Zu wem gehört diese Jacke und was ist passiert? Während einer mystischen Schiffsreise setzt sich, durch die Fragmente sich unterhaltender Mitfahrender, ein Mosaik zusammen. Doch wohin geht die Überfahrt? Ein junges Paar träumt vom Aufbruch zu einem gemeinsamen Neuanfang. Aber werden sie es schaffen, sich von dem zu lösen, was sie so stark zurückhält?

Wohin uns die Reise führt und ob das junge Paar weggeht, erfahrt ihr, wenn ihr mit uns im Kino bleibt. Wir laden euch herzlich dazu ein, mit uns gemeinsam durch die Welten zu reisen und auf ihre Bewohnerinnen und Bewohner zu schauen.

Adrian Stuiber für den Kurzfilmbeirat

Short Feature Film Programme Advisory Board
Imma Harms, Adrian Stuiber, Sascha Leeske, Lars Fischer

Florian Wolf
Florian Wolf
Kathrin Welke
Kathrin Welke
Almut Undisz
Almut Undisz
Dominik Zwicky
Dominik Zwicky

Kommentar des Programmbeirates - Animationsfilm

Animationsfilm Kommentar 23:

Das Innere im Äußeren sichtbar machen, irrwitzige Handlungselemente, welche Physik, Zeit und Raum in Frage stellen – die Animation bietet Freiheiten und Möglichkeiten in der visuellen Umsetzung, die dem Realfilm nicht gegeben sind. Wir im Animationsbeirat legen ein besonderes Augenmerk darauf, inwiefern diese kreativen Spielräume tatsächlich genutzt werden, um Geschichten für uns fühl- und fassbar zu machen.

Aus den 66 Einsendungen, die uns dieses Jahr aus 14 Ländern erreichten, haben wir auf dieser Grundlage für euch eine Auswahl von acht Filmen getroffen, die dies auf ganz unterschiedliche Weise umsetzen.

Einige setzen auf visuelle Dramatik: Da verwandeln sich im russischen Missbrauchsdrama „Vanlav“ Menschen in Schweine und eine rachsüchtige Löwin. In „Rest in Piece / Hoffnung in Stücken“ wächst einem Kriegsflüchtling verlorener Besitz als rettende Hilfe aus dem Körper in „A goat’s spell / Ziegenzauber“ hebt eine tote Ziege in LSD-fiebrigem Atari-Design die ganze Welt aus den Angeln.

Gemächlicher in Ausdruck und Tempo dagegen „À bicyclette / Mit dem Fahrrad“ und „Wo das Herz ist“ aus Frankreich sowie der belgische Beitrag „Ungezügelt“: Mit feingliedrigem und pulsierendem Zeichenstrich arbeiten die Autoren drei individuelle Reisen heraus, die unterschiedlicher nicht sein könnten – und trotzdem jede auf ihre Art in die Freiheit führen. Um letztere geht es im wörtlichen Sinne auch im deutschen Beitrag „Biegen und Brechen“, welcher es auf subtile Weise schafft, Gewalt und Unterdrückung im DDR-Jugendvollzug spürbar zu machen, ohne diese je bildlich zu zeigen.
Beispielhaft für die Macht und Kreativität gelungener Animation steht auch unser Eröffnungsfilm „Schließ die Augen“, der eine hübsche, bunte Mosaikwelt kreiert, welche die Zerbrechlichkeit der Protagonisten umso deutlicher erahnen lässt.

Wir freuen uns, euch auch dieses Jahr auf eine Reise durch die kreativen Räume der Animationskünstler*innen mitnehmen zu können und wünschen spannende und inspirierende Projektionen.

Animated Film Programme Advisory Board
Florian Wolf, Almut Undisz, Kathrin Welke, Dominik Zwicky