AKTUELLES

Sonderpreis „DER STACHEL“ 2020 – Jurybegründung

Lobende Erwähnung

WALDSTÜCK
Hannes Schilling, D, 2019

Waldstück„Waldstück“ nimmt uns mit auf Spurensuche – an einen scheinbar unscheinbaren Ort im Oderbruch und in das dunkelste Kapitel deutscher Geschichte.

Zeitzeuginnen, Reliquiensammler, Boden- und Denkmalpfleger decken hier auf, was vielerorts nur knapp unter der Oberfläche liegt.

Leise Bilder gesammelter Fundstücke und laut verlesene Tagebucheinträge aus dem Leben im geheimen Arbeitslager der Nazis erzählen schwarz auf weiß vom Kontrast unterschiedlicher Vergangenheitsaufarbeitung und einer langsam verblassenden Erinnerungskultur.

Dort, wo sich die Natur wie ein dünner Film über die Spuren menschlicher Geschichte legt, schürft „Waldstück“ ein – entscheidendes – Stück tiefer und bringt allgegenwärtige Zukunftsfragen ans Licht.

Wer entscheidet über Gut und Böse, über Notwendigkeit, Innen und Außen eines Lagers, wenn natürliche Ressourcen und Lebensräume schwinden, Klimakatastrophen zunehmen und von Systemrelevanz die Rede ist?

„Waldstück“ ist für uns kein Dorn im Auge, sondern Anwärter auf den diesjährigen „Stachel“.

 

Lobende Erwähnung

MASSACRE
Maïté Sonnet, France 2020

Massacre

Massacre – Preisträger 2020

Ein Film, so heiß diskutiert, wie es einem kalt den Rücken herunterläuft.

Ein Film, dessen Protagonistinnen uns zunächst leichtfüßig und süß auf einer kleinen französischen Insel begegnen – und uns mit einem bitteren Nachgeschmack nach Hause schicken.

Ein Film, der in kunstvoller Überhöhung die Schattenseiten von sonnenhungrigem Tourismus zeigt, wie der Luxus der einen den Alltag der anderen erst nährt, dann erstickt – und zu welch erschütternd-einfachen wie radikalen Lösungen zwei junge Schwestern bereit sind, um ihre geliebte Heimatinsel gegen touristische Landnahme und Verdrängung zu verteidigen.

„Massacre“, ein Film wie ein giftiger Cocktail, der schwer im Magen liegt und lange in Erinnerung bleibt und daher unsere Nominierung für den diesjährigen „Stachel“ verdient.

 

Preisträger „Der Stachel“ 2020

KOMBINAT
Gabriel Tejedor, CH/ D, 2020

Kombinat 394Das Leben in Magnitogorsk, im Herzen Russlands, ist nicht nur geprägt, sondern bestimmt durch die stählerne Präsenz des Kombinats.

Seit Generationen, in allen Schichten und sämtlichen Facetten des Lebens gibt das gigantische Stahl-werk den Takt vor – es vereint die Menschen im täglichen Trott, formt Feierabend und Festlichkeiten, setzt Maßstäbe, bricht Rekorde und Grenzwerte, gewinnt Preise, kostet Umwelt, Gesundheit und Menschenleben, sichert und zerstört die Lebensgrundlage der Menschen, die sich ihm mit Stolz und zunehmendem Widerwillen verschreiben.

Doch der ungewisse Schritt in eine bessere, sauberere Zukunft fernab von Gemeinschaft und Heimat lässt das vertraute Leid am Ende oft als das kleinere Übel erscheinen.

Das Kombinat steht nicht nur im Herzen Russlands. Und ist auch kein Relikt längst vergangener Tage. Es steht für den zur Absurdität gegipfelten Widerspruch unserer Zeit, in der sich der Mensch – wider besseres Wissen – der Industrialisierung beugt und, den Lockungen und Annehmlichkeiten des vermeintlichen Fortschritts folgend, mit den verheerenden Konsequenzen für Mensch und Umwelt lebt.

Ein Film, der uns wie kein anderer die wachsende Komplexität und Absurdität des modernen Menschseins im Kontext einer nachhaltigen Entwicklung vor Augen führt.

Ein Film, der keine Lösungen, wohl aber schmerzliche Selbsterkenntnis und viel fruchtbares Diskussionspotential bietet.

Ein Film, der uns mit einer subtilen Vehemenz dazu anstachelt, nicht Herdenschaf, sondern kreativ, selbstbestimmt und mutig zu sein.

Und eigene Wege zu finden – für eine lebenswerte Zukunft für alle.

0